Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

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Michael
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Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#1 Beitrag von Michael » 7. Februar 2020, 13:05

Hallo in die Runde,

bei meinen Beobachtungen von Bauchhärlingen in Mikroaquarien (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=33985.0) habe ich immer wieder die Gelegenheit, die Entwicklung der Tiere über einige Wochen zu verfolgen. Da Gastrotrichen einen interessanten und im Tierreich seltenen - wenn nicht einzigartigen - Lebenszyklus besitzen, möchte ich Euch einladen, mit mir den Lebensweg des Bauchhärlings Chaetonotus brevisetosus zu begleiten.
Ch. brevisetosus ROSZCZAK 1935 ist ein mit ca. 210µm Länge ein recht stattlicher Gastrotrich, der sich im Schuppenkleid von Ch. polyspinosus praktisch nicht unterscheidet. Da die deutlich kleinere Länge von Ch. brevisetosus kein gutes Kriterium zur Artabgrenzung ist und die Artfestlegung bei Bauchhärlingen traditionell durch die Schuppen erfolgt, sehen einige Bearbeiter Ch. brevisetosus als ein Synonym zu Ch. polyspinosus an. Eine längere Beobachtung in einem Mikroaquarium enthüllt aber einige Unterschiede zu Ch. polyspinosus (Magen, Form des X-Organs, Eiform, Verhalten).
Die Festlegung der Artgrenzen ist bei (zumindest vorwiegend) parthenogenetischen Tieren sehr problematisch. Die klassische biologische Artdefinition als Fortpflanzungsgemeinschaft versagt in diesem Fall und es verbleibt nur eine morphologische Beschreibung der Arten. Die Unterschiede zwischen zwei Individuen ist dann aber von der Genauigkeit der Beobachtung abhängig und erscheint daher oft willkürlich und nur der für die Klassifizierung in der praktische Arbeit notwendig.
Da sowohl Ch. polyspinosus als auch Ch. brevisetosus bei mir im selben Habitat vorkommen und deutlich morphologisch und durch ihr Verhalten zu unterscheiden sind, verwende ich im folgenden weiterhin die Bezeichnung Ch. brevisetosus. Ob diese Tiere eine eigene Art oder eine Variante von Ch. polyspinosus darstellen, bleibt der Weisheit der Taxonomen vorbehalten. Da Ch. brevisetosus seit seiner Erstbeschreibung im polnischen Tiefland wohl nicht mehr gesichtet wurde, werde ich im folgendem auf die Unterschiede zu Ch. polyspinosus hinweisen.


Wie bei allen Gastrotrichen beginnt das Leben von Ch. brevisetosus als Ei. Die Eier werden einzeln und offen abgelegt und haben eine doppelte, durch kleine - bei Wasserkontakt aufquellenden - Säulen zwischen den Eischalen versteifte Schale. Typisch für Bauchhärlinge sind die kristallinen Körper in den Darmzellen der Embryos, deren Funktion unbekannt ist und die sich in den ersten Lebensstunden auflösen. Zum Vergleich ist ein Bild eines Eies von Ch. polyspinosus aus dem selben Habitat eingefügt.

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Bild 1: Ch. brevisetosus, Ei kurz vor dem Schlupf; Inset: Ei von Ch. polyspinosus zum Vergleich

Kurz nach dem Schlupf zeigen sich die für Jungtiere typischen Proportionen. Kopf und Saugmagen (Pharynx) sind bereits voll ausgewachsen, während der Hinterleib mit dem Darm noch deutlich verkürzt ist. Das anschließende Wachstum des Tieres erfolgt daher nur am Hinterleib, bis die Erwachsenengröße nach einigen Tagen erreicht wird.

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Bild 2: Ch. brevisetosus, Größenvergleich Jungtier und ausgewachsenes Tier

Bereits kurz nach dem Schlupf ist am Darmeingang ein nahezu ungefärbter Bereich sichtbar. Dieser - später goldbraun gefärbte - Bereich wird als "Magen" bezeichnet und tritt nur bei sehr wenigen Gastrotrichen-Arten auf und bildet ein weiteres Unterscheidungskriterium zu Ch. polyspinosus der einen solchen Magen nicht besitzt.

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Bild 3: Ch. brevisetosus, kurz nach dem Schlupf; am Darmeingang ist die noch ungefärbte Anlage des "Magens" zu erkennen

Im Laufe der folgenden Entwicklung färbt sich der Magen des Tieres zunehmend.

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Bild 4: Ch. brevisetosus, älteres Jungtier mit leicht gefärbten Magen

Da der Magen anfänglich nur schwach gefärbt ist, kann seine Struktur in unterschiedlichen Schärfeebenen gut als Ring um den Darmeingang erfasst werden.

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Bild 5: Ch. brevisetosus, unterschiedliche Fokuslagen durch den noch leicht gefärbten Magenring

Bei älteren Tieren ist der Magen praktisch undurchsichtig und erscheint als eine dunkle, granuläre Masse. Die Funktion des Magens ist unbekannt. Da der Magen anfänglich ungefärbt ist, gehe ich davon aus, dass es sich hierbei um ein Speicherorgan handelt, in dem Nahrungsreserven eingelagert werden. Ich habe bisher nur zwei Gastrotrichenarten mit Magen gefunden (Heterolepiderma majus und eben Ch. brevisetosus). Beide Arten zeigen ein für Bauchhärlinge sehr auffälliges Verhalten: Gastrotrichen sind normalerweise immer auf Nahrungssuche und nie in Ruhe anzutreffen. Lediglich bei den beiden "Magen-Arten" fällt auf, dass die Tiere auch mal minutenlang an einer Stelle verharren und die Nahrungssuche unterbrechen. Daher gehe ich davon aus, dass die Existenz eines Magens die Effektivität des Verdauungssystems erhöht und eine ständige Nahrungsaufnahme nicht mehr nötig ist.

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Bild 6: Ch. brevisetosus, erwachsenes Tier, Magen

Nach einigen Tagen sind die Tiere ausgewachsen und treten in die stressige parthenogenetische Reproduktionsphase ein.

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Bild 7: Ch. brevisetosus, erwachsenes Tier, links mittiger Schnitt, rechts Fokus auf die Beschuppung der Bauchseite

Die dorsalen Schuppen des Tieres sind sehr kleinteilig und erst nach einer Schuppenanalyse ist die pfeilfömige Gestalt zu erkennen. Schuppenform und (dorsale) Schuppenveilung sind nicht von Ch. polyspinosus zu unterscheiden.

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Bild 8: Ch. brevisetosus, erwachsenes Tier, dorsales Schuppenkleid; Inset: abgelöste Einzelschuppe

Ein Fokus auf die Kopfunterseite macht deutlich, woher der Name "Bauchhärlinge" abgeleitet ist: Beidseitig zieht sich je ein Band von Zilien entlang, die der Fortbewegung des Tieres dienen. Gut zu sehen sind die Basalkörper der Einzelzilien. Bei Ch. brevisetosus sind - anders als bei Ch. polyspinosus - die beiden Zilienbänder hinter der Mundöffnung verbunden. Außerdem fehlt eine ausgeprägte kutikulare Platte direkt hinter dem Mund (das "Hypostomium") das bei Ch. polyspinosus prominent ausgebildet ist und zwei Höcker trägt.

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Bild 9: Ch. brevisetosus, erwachsenes Tier, ventrale Zilienbänder

In dieser parthenogenetischen Phase legen die Tiere (meist) vier unbefruchtete, im Vergleich zur Größe der Tier, riesige Eier im Abstand von ca. einem Tag. Anders als bei der "Laborratte" der Gastrotrichen-Forscher Lepidodermella squammata werden keine Dauereier abgelegt. Alle Eier entwickeln sich sofort zu Embryos weiter. Eine der häufigsten Todesursachen bei Gastrotrichen ist, dass die riesigen Eier oft nicht abgelegt werden können und die Mutter nach einem stundenlangen Kampf verstirbt. Diese enorm anstrengende parthenogenetische Reproduktionsphase schwächt die Tiere so, dass auch Krankheiten gehäuft auftreten wie zum Beispiel der in Bild 10 gezeigte bakterielle Befall des Darmes durch Bakterien. Das Tier konnte keine Nahrung mehr aufnehmen und verstarb bald nach der Aufnahme. Beachtenswert finde ich, das der Magen bei dem befallenen Tier wieder ungefärbt ist. Möglicherweise wurden die Vorratsstoffe, die den Magen färben, aufgebraucht.

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Bild 10: Ch. brevisetosus, krankes Tier mit "Daarmentzündung"

Die Sterblichkeit in dieser Entwicklungsphase ist deshalb sehr hoch und die durchschnittliche Lebenserwartung der Tiere beträgt nur ein bis zwei Wochen. Oft findet man verstorbene Tiere im Präparat, von denen meist nur noch die kutikularen Teile zu erkennen sind. Dies erlaubt es, das Schuppenkleid der Tiere genauer zu studieren.

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Bild 11: Ch. brevisetosus, verstorbene Tiere

So ist es auch in einem Mikroaquarium möglich, genau Bilder von den ventralen Terminalplatten zu gewinnen, die oft für die Artbestimmung ausschlaggebend sind. Bei Ch. brevisetosus sind - anders als bei Ch polyspinosus - zwei große Terminalplatten vorhanden.

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Bild 12: Ch. brevisetosus, Terminalplatten

Bei den wenigen Überlebenden dieser parthenogenetischen Phase beginnt ein Umbau des Tieres zu einem Zwitter. In dieser "post-parthenogenetischen" Phase werden keine Eier mehr abgelegt und die Lebenszeit des Tieres verlängert sich um bis zu drei weiteren Wochen.
Der Umbau zum Zwitter beginnt mit der Entwicklung des X-Organs am Hinterende, beidseitig unterhalb des Darms des Tieres.

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Bild 13: Ch. brevisetosus, Beginn der Entwicklung des X-Organs

Einige Zellen der Ovarien beginnen sich zu teilen und schließen sich zu beidseitig zu je einer Drüse zusammen, die in einen inneren Hohlraum ein Sekret mit unbekannter Funktion abgeben. Am Ende dieser Entwicklung ist deutlich die Hülle des X-Organs und das Sekret im Inneres des Organs zu unterscheiden. Die beiden Sphären des X-Organs sind miteinander verbunden.

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Bild 14: Ch. brevisetosus, voll entwickeltes X-Organ

In der Seitenansicht erkennt man die Lage des X-Organs und die Trennung zwischen granuliertem Cortex und dem homogenen Inhalt.

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Bild 15: Ch. brevisetosus, Seitenansicht des X-Organs

Bei Ch. brevisetosus ist gut zu erkennen, dass das X-Organ einen mittigen Ausführungsgang zur Bauchseite des Tieres besitzt, der unter den Schuppen endetet.

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Bild 16: Ch. brevisetuosus, Ausführungsgang des X-Organs

Parallel zu dem X-Organ entwickeln sich nahe der Bauchseite einige unbewegliche Spermapakete, die im Laufe der Entwicklung weiter zum Hinterende des Tieres an das Ende des sich parallel entwickelnden Eies wandern. In der Endlage liegen die Spermapakete in der Nähe Stelle, an der auch die Eier ausgeschieden werden (die Gonopore ist mikroskopisch wohl nicht zu erkennen).

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Bild 17: Ch. brevisetosus, Spermapakete; Sp: Spermapakete, X: X-Organ; X-Öffnung: Ventrale Öffnung des X-Organs

Fokussiert man in der Seitenansicht auf die Mitte des Tieres, ist die Lage des Ausführungsgangs des X-Organ gut zu erkennen. Zusätzlich zu den Spermapaketen ist ein reifes Ei voll entwickelt. Das Tier ist zu einem echten Zwitter konvertiert. Zu diesem Zeitpunkt ändert sich das Verhalten des Tieres. Normalerweise bilden die meisten Gastrotrichenarten Kleingruppen. Findet man in einem Mikroaquarium ein Tier, halten sich auch die anderen Tiere in der Nähe auf. Die post-parthenogenetischen Zwittertiere sondern sich von dieser Gruppe ab. Möglicherweise versucht das Tier nun, sich anderen Kleingruppen anzuschließen um zur Paarung die genetische Vielfalt zu erhöhen.
Innerhalb eines Mikroaquariums konnte keine Paarung oder Eiablage eines Zwittertiers beobachtet werden. Das Tier überlebte ca. drei Wochen nach der Umwandlung zu einem Zwitter bevor es verstarb.

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Bild 18: Ch. brevisetosus, Seitenansicht; Ei: reife Eizelle; Sp: Spermapakete, X: X-Organ; X-Öffnung: Ventrale Öffnung des X-Organs

Am Ende der Lebensdauer des Mikroaquariums verschlechtern sich die Lebensbedingungen für die Tiere mehr und mehr und die aktiven Tiere sterben. Die zu diesem Zeitpunkt abgelegten Eier verlangsamen ihre Entwicklung immer mehr, bis die voll entwickelten Embryos scheinbar leblos in den Eiern liegen. Erst eine Zeitrafferaufnahme der Eier enthüllt, dass die Tiere (auch nach einigen Monaten) immer noch leben und sich ganz langsam bewegen. Ähnliches hatte ich schon mal für Lepidochaeta zelinkai dargestellt (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=31200.0). Ich gehe davon aus, dass Ch. brevisetosus keine Dauereier bildet, sondern bei "schlechte Zeiten" den Schlupf zurückstellt und die Embryonalentwicklung unterbricht. Verbessern sich die Verhältnisse wieder, schlüpft die neue Generation aus den überdauerten Eiern.

Ich hoffe, Euch auf eine interessante Reise ins Reich der Gastrotrichen mitgenommen zu haben.

Viele Grüße

Michael
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Ole
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#2 Beitrag von Ole » 9. Februar 2020, 18:52

Hallo Michael,

schönen Dank für diese detaillierten Schilderungen, die mal wieder ein Beweis für Deine Geduld und Beobachtungsgabe sind.

Beste Grüße

Ole
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#3 Beitrag von Michael » 12. Februar 2020, 13:24

Hallo Ole,

es freut mich, dass Dir mein Beitrag gefallen hat. Bei Mikroaquarien lohnt sich immer die Geduld - auch wenn die Fotoqualität naturgemäß leidet!

Viele Grüße

Michael
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#4 Beitrag von paramecium » 12. Februar 2020, 22:08

Hallo Michael,

wieder ein toller Bericht über Deine Lieblinge.

Mich wundert, dass es bei den Gastrotrichen offenbar noch so viele offene Fragen zur Abgrenzung der Arten gibt. Werden diese neuerdings nicht genetisch genauer erfasst? Umgekehrt wundert es mich, dass man bei "Artenkomplexen" von Ciliaten auf genetischem Weg noch solche Probleme hat weil(?) man morphologische Unterschiede nicht beachtet oder beschreibt, sondern nur deren genetische Bäume betrachtet.

Ich habe allmählich den Eindruck gewonnen, dass man den Aufwand einer Abgrenzung von Arten auf traditionellem Weg, nämlich der Frage ob sie sich verpaaren und mit welchen Schwierigkeiten das verbunden ist, seit den 1950er Jahren gar nicht mehr verfolgt, stattdessen einer Genanalyse eines kleinen Abschnitts der DNA mehr Vertrauen schenkt (Stichwort Barcoding). Viele der aktuellen Publikationen betrachten hier für die Sequenzierung und Einordnung nur winzig kleine Abschnitte der DNA von 1.000-3.000 Basenpaaren um Arten zu klassifizieren (Stichworte: eukaryotische Primer, 18S rDNA, ...).

Liebe Grüße

Thilo
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Michael
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#5 Beitrag von Michael » 13. Februar 2020, 13:21

Hallo Thilo,

seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage der Artabgrenzung bei Gastrotrichen. Ursprünglich wurde die Arteinteilung in der Biologie rein morphologisch vorgenommen. Dabei ergeben sich aber eine ganze Reihe von Schwierigkeiten (gleiche Morphologie bei unterschiedlichen Arten, also Zwillingsarten; unterschiedliche Morphologie bei der selben Art, also z.B. geographische Variationen). Vor allem war diese Artabgrenzung subjektiv, da bei genauerer Beobachtung immer mehr Unterschiede zwischen den Individuen zu finden sind. Mit Darwin wurde klar, dass Arten sich aus anderen Arten kontinuierlich entwickeln - wo sollte man da rein morphologisch die Grenze zwischen den Arten ziehen? Letztendlich ist eine solche Abgrenzung immer willkürlich.
Um die Arten also vernünftig abzugrenzen, musste ein "experimentelles" Kriterium her, das die Arten - so sie überhaupt in der Natur existieren und nicht nur ein "künstliches" Konstrukt der Taxonomen sind - eindeutig voneinander abgrenzt. Das führte zur Entwicklung des "biologischen Artbegriffs". Eine Art wird hier im Wesentlichen als "Fortpflanzungsgemeinschaft" betrachtet: zwei Individuen einer Art können gemeinsam fruchtbare Nachkommen zeugen.
Diese einfache Definition verliert aber ihren Sinn, wenn es sich um parthenogenetische Tiere handelt (Gastrotrichen sind parthenogenetisch - zumindest wurde noch keine geschlechtliche Fortpflanzung beobachtet). Man kann dann versuchen, Arten "experimentell" abzugrenzen indem man definiert, dass unterschiedliche Arten im selben Habitat unterschiedliche ökologische Nischen besetzen (auch das ist in der Praxis zumindest sehr schwer beobachtbar). Eigentlich hat man für die Praxis keine andere Chance, als die Arteinteilung bei Gastrotrichen weiterhin rein morphologisch zu machen.
Auch eine Untersuchung der genetische Unterschiede bringt hier keine Abhilfe: ab wie viel Unterschied soll man von einer anderen Art sprechen? 1 Nukleotid? 1% der DNA-Sequenz? Spiegelt sich dieser Unterschied in der Morphologie wieder? Auch hier muss eine willkürliche Artgrenze festgelegt werden. Der große Vorteil der genetischen Untersuchen ist hier in meinen Augen, dass sich Verwandtschaftsverhältnisse in Form von "genetischem Abstand" untersuchen lassen.
Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten kommt die riesige Variabilität der Arten bei den Gastrotrichen hinzu. So gibt es z.B. eine Untersuchung, dass sich "Geschwister" von Lepidodermella squammata innerhalb von 5 Generationen bereits sehr signifikant im Schuppenbild unterscheiden:

Amato, A. J., & Weiss, M. J. (1982). Developmental Flexibility in the Cuticular Pattern of a Cell-Constant Organism, Lepidodermella squammata (Gastrotricha). Transactions of the American Microscopical Society, 101(3), 229. https://doi.org/10.2307/3225811

Fünf Generation bedeuten bei der riesigen Reproduktionsrate von Gastrotrichen gerade mal 5 Wochen!
Wenn sich also die Population eines Gastrotrichs vor z. B. 20 Jahren von einer in einem anderen, benachbarten Teich getrennt hat - der "genetische Abstand" also 40 Jahre beträgt - unterscheiden sich die beiden Populationen um ca. 2000 Generationen. Umgerechnet auf den Menschen entspräche das einem Abstand von 60000 Jahren! Wie groß mag wohl der morphologische Unterschied von uns zu einem so frühen Vorfahr sein?

Viele Grüße

Michael
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#6 Beitrag von paramecium » 14. Februar 2020, 23:28

Hallo Michael,

diese Frage nach der Prozentzahl genetischer Übereinstimmung beschäftigt mich gerade auch sehr.

T. M. Sonneborn hat das ja pragmatisch auch für diesen Fall genetischer und morphologischer Ähnlichkeit für die Ciliaten gelöst. Kurioserweise werden seine Ergebnisse in der allgemeinen Genetik seltener zitiert. Er beschrieb damals für Paramecium aurelia verschiedene Stämme, die er damals noch "races" (Rassen) nannte. So kurz nach dem Krieg war dieser Begriff wohl nicht mehr so gut geeignet, diese Umstände zu charakterisieren. Vielleicht ein Grund, weswegen seine Arbeit bei den Genetikern heute kaum Anerkennung fand oder zitiert wurde. Seine Beobachtungen stützte er damals auf den Befund, dass die (genetisch unterschiedlichen) Stämme dieser Art des Pantoffeltierchens sich teilweise, jedoch nicht in jeder Kombination, kreuzen ließen.

Ciliaten auf der anderen Seite sind auch solch ein Spezialfall, da sie sich meist durch Teilung vermehren. Gelegentlich jedoch (meist bei Nahrungsmangel induziert, was aber nicht gesichert ist) tauschen sie Erbgut durch Kopulation ihr Erbgut, frischen es quasi auf, eine Art der sexuellen Fortpflanzung, welche jedoch erst durch nachfolgende Teilungen erfolgt. Sonneborns Kreuzungsexperimente und das gefundene "Killer Paramecium" das nach der Kopulation und dem Austausch seines Erbguts mit anderen Stämmen dieser Art Individuen der anderen Stämme sogar versterben ließ, war wohl dem biologischen Artenbegriff noch sehr viel näher, als die Versuche heute aus einer statistischen Ähnlichkeit der Gensequenz eine Ähnlichkeit abzuleiten.

Der genetische Artenbegriff scheint gelitten zu haben. Aber auch beim Menschen kommt heute doch keiner auf die Idee von zwei Arten zu sprechen, nur weil ein Paar keinen Erfolg bei der Zeugung hat. Es bleibt schwierig, das nachzuvollziehen, finde ich.

Ich beschäftige mich auch gerade mit einer neuen Art und habe hier Hilfe von zwei Kollegen bekommen, die mir bei der Bestimmung helfen. Ich fand diesen Spirostomum sp. in meinen Sümpfen hier vor der Haustüre sozusagen. Einen Teil der Gensequenz, den Abschnitt der 18S rDNA haben wir schon sequenziert. Die Klassifizierung ist damit erledigt. Das Biest gehört zum Spirostomum minus Komplex. Doch habe ich Zweifel an dem behaupteten "Artenkomplex", da die vielen bisher gesehenen Varianten dieses "Artenkomplexes" allesamt so unterschiedlich aussehen und obendrein gelegentlich gemeinsam in ein und dem selben Gebiet als Nahrungskonkurrenten auftreten. Auch der Begriff der sympatrischen Arten beschäftigt mich seither. Doch sind die Ciliaten meist schon ältere Arten.

Ob meine Art nun wirklich neu ist, oder einfach noch nicht beobachtet wurde, will ich gar nicht in Frage stellen. Ich nehme einfach an, sie wurde bislang nicht beobachtet. Dafür sprechen einige Schwierigkeiten die beobachtete Farbe meines Spirostomum mit einfachen mikroskopischen Objektiven sicher zu erkennen. Mikroskopobjektive haben je nach Bauart gewisse Probleme eine gute Farbwiedergabe zu erlauben. Das zeigen auch viele der gesehenen Mikrofotos. Der DIC gibt ja erst recht kaum Auskunft über solche Farben, so dass solche Beobachtungen eine Beobachtung im Hellfeld oder schiefer Beleuchtung erfordern. So erscheinen manche Spirostomum Arten in einfachen Achromaten und je nachdem ob man eine LED oder eine Halogenlampe benutzt aufgrund optischer Effekte bei der Abbildung einfach nur "braun", obwohl sie eigentlich weiß, also ohne Farbe sind. Demgegenüber fiel mein Spirostomum durch eine Färbung auf, die die Kollegen jedoch mit einfachen Mikroskopen zunächst nicht so einfach erkennen konnten, dann aber doch bestätigten. Ähnliche Probleme hatte ich selbst schon einmal mit der roten Färbung von Blepharisma sp. Das sind solche Feinheiten in der Morphologie neben einfacheren Merkmalen, wie Größe und Form des Nucleus. Langer Rede, kurzer Sinn: Sp. minus Arten, die ich bisher als solche bewertete, sind normalerweise so transparent und unbunt wie ein Sp. teres, erscheinen jedoch weder gefärbt, noch intransparent.

Der betrachtete Genabschnitt dieses Spirostomum sp. umfasst gerade mal knapp 3.000 Basenpaare. Beschreibt also gemessen an der riesigen DNA eines Ciliaten einen verschwindend geringen Bruchteil des Erbguts. Ciliaten besitzen bis zu 10 Mrd. Basenpaare (10 hoch 10). Wieviel Ähnlichkeit bedeutet da ein solch winziger Abschnitte des Barcodes der rDNA?

Gruß

Thilo
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Re: Der Lebensweg eines Bauchhärlings am Beispiel von Chaetonotus brevisetosus

#7 Beitrag von Michael » 17. Februar 2020, 08:42

Hallo Thilo,

der "Artbegriff" ist nicht trivial - es gibt da ganze Bücher, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Es gibt auch ernstzunehmende Stimmen, die die Existenz von Arten ganz ablehnen und nur die Betrachtung von Individuen zulassen. Der Artbegriff wird dann nur als eine "künstliche" - für die Praxis notwendige, aber subjektive - Klassifizierung betrachtet. In wieweit der explodierende Kenntnisstand in der Genetik da eine Entscheidung gebracht hat, vermag ich nicht zu beurteilen.
Glückwunsch zu Deinem spannenden Fund - ich hoffe Du hältst und da auf dem Laufenden!
Die Farbe eines Exemplars ist leider ein recht schlechtes Artkriterium, da Farbe keine "Materialeigenschaft" ist, sondern von der Beleuchtung, Bildverarbeitung und dem aktuellen "Weißabgleich" unseres Gehirns abhängt.

Viele Grüße

Michael

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